Emsig rührte Ursi, die schöne Sennerin mit dem wilden blonden Haarschopf die dampfend warme Milch um, die sie soeben ab dem, vom Russ vieler Jahrzehnte geschwärzten Herd in der einfachen Alphütte weit oberhalb Surava genommen hatte, um sich vor Tagesanbruch, wie sie es seit vielen Sommern jeden Morgen zu tun pflegte, einen grossen wärmenden Schluck zu gönnen und damit Kraft für ihr schönes aber auch strenges Tagwerk, welches ihr auch heute bevorstand, zu schöpfen.
Ohne Groll schaute die ...
Die Bar ist voll und es ist laut. Sie stolpern zur Tür rein und sind zu fünft. Alle erstaunlich gut gelaunt und auffallend schlecht gekleidet. Davon nimmt aber niemand Notiz. Es ist kurz nach Mitternacht und der Dresscode scheint sich gerade irgendwo zwischen zwanglos und stillos eingependelt zu haben. Die Mädchen und ihre Männer machen also keine Ausnahme. Sehen alle aus, wie wenn sie bei einem Wanderzirkus arbeiten würden. Die Vorstellung ist aus, die Manege leer, jetzt haben sie noch ein bisschen ...
Hochsommer in Manhattan. Ich war wieder zu spät aufgestanden, rauchte eine Zigarette zum Fenster hinaus und machte mich dann auf den Weg. Ich überquerte die 5th Avenue, nahm bei der Central Station die Metro und fuhr runter bis zur Canal Street. Als ich dort ausstieg, hatte ich vergessen, was ich hier wollte und weshalb ich jetzt eigentlich da war. Das erinnerte mich an meinen Grossonkel Leonhard, der 1964 zur Landesausstellung nach Zürich fuhr. Oder an »À bout de souffle«, den Klassiker von Jean-Luc ...
Es ist noch früh am Morgen. Die beiden Frauen sitzen im Zug und reden. Sorgfältig, langsam und leise. Die Worte sind gewählt, die Stimmen gedämpft, die Gedanken scheinen schön und wichtig. Mit anderen Worten, es tönt so aufgesetzt empfindsam wie eine Moderation auf DRS 2. Dann schaut die eine der beiden unvermittelt auf ihr Smartphone und lächelt still in sich hinein: ihr Partner wünscht ihr einen schönen Tag. Ist das nicht schampar schön?
»Es sind doch immer wieder die kleinen Dinge des ...
Sehnst du dich nicht nach einem Hauch von Leben,
Nach einem heissen Arm, dich fortzutragen
Aus diesem Sumpf von öden, leeren Tagen,
Um den die bleichen, irren Lichter weben?
Hugo von Hofmannsthal
Drei Tage im Glück. Am letzten Tag hält es die Seidenbluse nicht mehr aus. Am Frühstückstisch muss und bricht es aus ihr heraus, unvermittelt und ungefragt. Ihr finales Fazit, ihre zusammengereimte Zusammenfassung, damit auch die weniger Feinsinnigen und Schöngeistigen ...
Am Ende der Strasse, mitten im glühenden Nichts Sardiniens taucht der Bauernhof auf. Verlassen in der Mittagshitze. Gleich dahinter versperrt ein massives Eisentor die Weiterfahrt zur Sehenswürdigkeit. Im Rückspiegel taucht er auf, ganz klein und wird schnell grösser, wie wenn er auf diesen Moment gewartet hätte. Dann ist er da, sein Einsatz. »Proprietà privata«, sagt er durchs heruntergelassene Seitenfenster und »cinque euro«, sagt er auch noch, wie er es schon so oft gesagt hat. Eine abgetragene ...
Da liegen sie also, einer neben dem andern, am kleinen Strand vor dem Lido. Sie schauen nicht weg, sie schauen einfach in eine andere Richtung. Aufs Meer hinaus, in die unendliche Weite. Es ist ruhiger als sonst, die Strasse hinter dem Strand ist heute gesperrt. Ein Carabineri winkt und erklärt. Dann nähert sich der Zug. An der Spitze der Pfarrer im Ornat. Sancta Maria ora pro nobis nunc et in hora mortis nostrae beten die alten Frauen. Nonnas wie aus neorealistischen Filmen, mit schwarzen Kopftüchern ...
Von Kopf bis Fuss auf Ferien eingestellt. Unbeschwert in den Süden fahren und zwei Wochen herumlaufen wie ein Idiot. Bankprokuristen, Sachbearbeiter und Filialleiter zeigen Mut und der Welt ihre haasträubenden Beine. Eine Zumutung auch die Gattinen. Sie, die sonst stilsicher Tischtücher für Kindergeburtstage und Kravatten für Firmenessen aussuchen, zwängen ihre Kilos jetzt bedenkenlos in enge, weisse Shorts und schrecken vor pinkfarbenen T-Shirts nicht zurück, selbst wenn »My Pussycat« oder »Beach ...
Stark und tapfer lebt sie in den Ruinen ihrer unerfüllten Wünsche, zwischen den Trümmern ihrer geplatzten Träume.
Da ist sie wieder. Steht da und fällt auf. Schlank und schön. Und totzdem, Glücklichsein, sieht anders aus. Aber was soll’s und wer ist das schon, der kurz nach Mitternacht mit einem leer getrunkenen Glas voller Eiswürfel an einer Bar lehnt. Leicht betrunken und etwas enttäuscht. Wieder einmal. Auch sie hat sich alles ganz anders vorgestellt. Früher. Aber dorthin ...
Man sollte einem Führer nie blind folgen. Weiss man ja. Neu vielleicht, dass diese Binsenweisheit auch für Reiseführer zutrifft. Wenn da steht: offen, kanns also durchaus auch geschlossen sein und mit links abbiegen kann auch rechts gemeint sein. Alles halb so wild, man ist ja im Urlaub und also in einem fernen Land und also tolerant gestimmt. Auch dem Autor gegenüber, denn, so einen Führer zu schreiben, ist ja sicher gar nicht so einfach. Man will den Reisenden neugierig machen auf tausend Sachen ...
»Money is not the problem. I have money«, sagt Vladimir. Viktor sagt nichts. Wahrscheinlich hat auch er hat keine Probleme. Aber offensichtlich auch keinerlei Sprachkenntnisse. Das kümmert ihn wenig, denn Geld ist schliesslich eine Sprache, die man auf der ganzen Welt versteht. Die beiden Russen sind zum Tauchen nach Sardinien gekommen, direkt von Zypern, fliegen Ende Woche nach Kenia weiter und eine Woche später nach Grenoble. Na klar, wer gut verdient, hat auch einen guten Urlaub verdient. Das ...
Sehen alle so aus, als hätten sie irgendwas falsch gemacht im Leben. Oder noch schlimmer, es zu spät bemerkt. Und so laufen sie dann rum in ihren Ferien. Irgendwie enttäuscht, mit kurzen Hosen und langen Gesichtern. Ja, das Leben ist ganz schön ungerecht und die Empfehlungen des Reiseführers auch alle nur halb so schön. Zwei Wochen haben sie gebucht. Da müssen sie jetzt durch. Wieder mal das kurze Ende erwischt. Sie sind es gewohnt. Und haben es schon so verinnerlicht, dass ihnen vielleicht sogar ...
Das Lokal ist bieder. Die Portionen sind gross. Beängstigend schon fast. Spaghetti della casa. Er hat seinen Berg in fünf Minuten weggeschaufelt, die ganze Ladung in sich hineingefressen und den Teller mit Brot leergefegt. Und während er die letzten Saucenreste zusammenwischt, sagt er, das sei ja noch gar nichts, drei solcher Portionen wären ihm also schon recht. Er habe immer noch Hunger. Er habe sowieso immer Hunger. Immer, immer, immer. – Was für ein dummer Langweiler!
Auf die Idee einfach ...
Hors saison. Ein Restaurant mitten in Frankreich. Das Mobiliar könnte auch aus einer heruntergekommenen Quartierbeiz sein. Die Platzteller sehen aus, wie mundgemalt von Marc Chagall. Irgendwie ist hier alles ein Tick zu dunkel. Ausserdem riecht es im ganzen Raum gerade penetrant nach Petrolium oder Linoleum.
Und da kommt auch schon die Chefin. Sie hat eine Frisur wie Ziggy Stardust, trägt eine karminrote Kunstlederjacke und dazu einen schwarzen Jupe. So aufgebrezelt verbreitet sie den ...
Kommissar Casparis’ erster Fall
Reto Casparis fuhr mit dem Velo zur Arbeit. Es war schweinekalt an diesem Oktobermorgen. Er hatte die Handschuhe Zuhause vergessen und war etwa so motiviert wie eine rumänische Nutte im strömenden Regen. Der Ledersattel seines alten Tour de Suisse-Velos war feucht, die Kette rostig und hinten fehlte die Luft. Schon etwas peinlich für einen von der Kantonspolizei, ...
Kommissar Casparis’ tiefster Fall
Seit zweienhalb Stunden sass Komissar Casparis zerknittert wie ein alter Sitzsack in seinem Wagen mitten im Nebel und beobachtete den Eingang des heruntergekommenen Wohnblocks in Arbon. Es war Freitag und es war Feierabend. Ausserdem war der Fall längst abgeschlossen. Herrgott nochmal, wieso konnte er die alte Geschichte nicht endlich auf sich beruhen lassen! Immer wieder griff er nervös zum Feldstecher und nahm das Ende der schmalen Zufahrtstrasse ...
Der Himmel über Turin ist an diesem Nachmittag bedeckt. Es ist kurz vor fünf, als der weisse Lamborghini des Prinzen auf den breiten Kiesweg vor dem Palazzo einbiegt. Pünktlich wie immer. Gräfin Orsinas Herz pocht wild. Sie ist mehr als entzückt und tropft bereits wie ein Kieslaster. Der Zwölfzylinder ihres Liebsten rollt vor die Thuyahecke, röhrt noch einmal heiser fauchend auf, bevor er röchelnd verstummt. Flügeltüren fliegen auf und Hettore Gonzaga, der Prinz von Guastalla schwingt sich, so ...